Ein Christologie-Kompass orientiert unser Verständnis von "Jesus heute" in der Form von integralen Christologien: Dass es verschiedene Vorstellungen von Jesus gibt zeigt sich ja deutlich in den verschiedenen Jesusbüchern, die in den letzten Jahren Furore gemacht haben. Spannend ist die Beobachtung, dass es außerhalb der Kirche kritische Reflexionen über Jesus gibt, sodass man sogar von ausgearbeiteten Christologien reden kann, die nicht nur jenseits der Kirchen, sondern auch außerhalb des Christentums rezipiert werden. Das ist auch keine ganz neue Entwicklung. Seit der Aufklärung gab es diesen Prozess.
Alt ist auch die Problematik, dass die Kirche es nicht schafft, sich konstruktiv-kritisch mit diesen Christologien und der Volksfrömmigkeit auseinanderzusetzen. Hier wirkt noch heimlich die Vorstellung, dass innerhalb der Kirche eine tragfähige Meinungsbildung möglich ist. Das deutet mir stark darauf hin, dass die "Christentümliche" Grundüberzeugung, alles am Ende doch in einen Sack zu kriegen, noch wirksam ist.
Aber allein das altkirchliche Dogma der Zweinaturenlehre ist heute nicht mehr plausibel haltbar. Und genau auf das beziehen sich alle innerkirchlichen Christologien positiv, immer mit dem Verweis auf "unsere tragenden Glaubensbekenntnisse". Damit wird deutlich, dass abweichende Christologien oder exegetische Deutungen wie diese damit aus dem Konsensrahmen fallen, der historisch willkürlich auf die altkirchlichen Dogmenbildungen fixiert ist. Hier müsste die Diskussion zur Rolle der Bekenntnisschriften im Gegenüber zu den Heiligen Schriften noch einmal grundlegend geführt werden.
Thesen für eine historisch gut rekonstruierte Christologie
- Jesus ist kein "zweiter Gott" (Die zwei-Naturenlehre sollte nämlich genau vor diesem Missverständnis schützen!)
- Gott, nicht Jesus, gehört in das Zentrum des Glaubens (auch des christlichen Glaubens)
- Gott ist bleibend ein jüdischer Gott, gebunden an seinen Eigennamen JHWH
- Es ist jetzt (wenn nicht jetzt, wann dann?) Zeit, das Ende des kirchlichen Dogmas einzuleiten und
- ein neues historisches besser begründetes "Dogma der Postmoderne" zu entwickeln (Perriman)
- Legitimation geschieht durch diese Minimalforderung: jede Christologie, die keine Fakenews produzieren will, muss den jüdischen Glauben Jesu in Rechnung stellen, nicht als inhaltliche Messlatte für heute, aber als Messlatte für das, was man aus Jesus machen kann oder nicht. (s. 156-164 Kuitert)
- Diese Gedanken oben sind inspiriert von dem niederländischen systematischen Theologen und Ethiker H. M. Kuitert, "Kein zweiter Gott" (Patmos Verlag 2004).
- Eine weitere Inspirationsquelle ist natürlich der hermeneutische Paradigmenwechsel durch Andrew Perriman, seine historisch-narrative Exegese.
- Anschließend an die Pluralen Hermeneutik, Polyphones Verstehen, Entwürfe zur Bibelhermeneutik, von Gerd Theißen konzipierte ich meine christologische Grundidee aus.
Mit den folgenden zwei Karten aus unserem Kompassmodell versuche ich also, das Gute aus dem exegetischen Ansatz mit dem Guten des niederländischen Theologen auf systematisch-theologische Ebene zusammen zu bringen. Denn nur durch diese "enge Pforte" der Systematisch-theologischen Reflexion ist es möglich, exegetische Ergebnisse ins Heute zu übersetzen.
Meine hermeneutische Axiome:
- Jesus ist zweifelsfrei eine geschichtliche Gestalt gewesen und
- Der Ursprung jeder seriösen Christologie startet mit einem hohen Interesse an guter historischer Forschung.
- Glaube = "Bedeutung Jesu" lässt sich nicht wissenschaftlich-historisch feststellen: "Weil Glaube gerade Glaube ist. Er kennt nur ein Konzept, eine Skizze, Reihen von Skizzen, die uns auf den Weg bringen, Gott zu finden, die Freiheit, die völlige Freiheit bringen, mit ihnen aufzubrechen oder auch nicht." (161 Kuitert) Glaube ist damit eine abenteuerliche Reise einer Gemeinschaft.
- Alle Tatsachen sind weitererzählte Tatsachen, verkündete Tatsachen und daher immer interpretierte, sonst gäbe es nichts zu erzählen" (161)
Die Minimalforderung, die ich an eine christliche Christologie stelle, führt uns also zurück zur Forschung nach den Worten und Werken Jesu, nach seinem Leben und seinem Schicksal. Was dabei herauskommt, müssen wir abwarten. Vieles ist unsicher, historisch gesprochen, vieles besteht aus Spekulation und Hypothesen, aber da ist auch vieles, was fest steht. Auf jeden Fall ist eines so sicher wie das Amen in der Kirche: Jesus war ein Jude, seine Religion war die jüdische, er glaubt in jüdischer Weise an Gott. Eine Christologie, ob wir sie nun brauchen oder nicht, darf unter allen Umständen nicht an der jüdischen Religion vorbeigehen. Jesu Konzept von Gott muss ich in sie einfügen, andernfalls passt Jesus nicht in sie hinein. Uns die Grenzen der Glaubensfantasie aufzuzeigen, eine Art von Damm gegen die wilden Christologien aufzurichten, das macht Jesus als historische Gestalt, als den Menschen, der damals lebte und Jesus genannt wurde, unentbehrlich, mit all der historischen Forschung, die damit ein her geht.
Kuitert, "Kein zweiter Gott" 162
...daneben bringt diese (kirchliche Christologie) Auffassung dem christlichen Glauben derart unüberwindbar Probleme, dass ich Gott-auf-Erden als einen Holzweg zu bezeichnen wage... Jesus war Jude, seine Religion war die jüdische Religion, und ein Jude kann sich selbst nicht als Sohn Gottes (im trinitarischen Sinn) bezeichnen. Das steht zu seinem Glauben grundsätzlich im Widerstreit....
Kuitert, "Kein zweiter Gott" 162
Es gibt noch weiteres zu bedenken. Jesus als Gott-auf-Erden verstanden beinhaltet, dass zum jüdischen Konzept von Gott, an dem Jesus selbst sich orientierte, ein zweites Konzept von Gott, und zwar von Gott-auf-Erden, hinzugefügt wird. Oh, das bedeutet nicht nur, dass das "christliche Konzept von Gott", die "christliche Religion", von der "Religion Christi", Jesu eigenem Glauben, abgelöst wird, sondern auch, dass Christen sich an zwei Konzepte halten müssen und zwei Glaubenssicherheiten nötig haben. Zum einen ist es die Sicherheit über Gott im Himmel, eine Sicherheit, die ein Mensch empfängt, wenn er demjenigen, der ihm im Konzept entworfen ist, begegnet und daneben noch eine Sicherheit über Gott-auf-Erden, eine Sicherheit, die von historischer Forschung abhängt, falls diese Forschung nicht – aus Angst vor einem Angriff auf die Grundlagen des Glaubens – dadurch umgangen wird, dass aus den Tatsachen Heilstatsachen gemacht werden, zu denen die historische Wissenschaft keinen Zugang hat. Kann aber der Glaube entscheiden, was geschehen ist und was nicht?
Kuitert, "Kein zweiter Gott" 162
"Glaubenssicherheit" über Gott - "historische Sicherheit" über Jesus
Es sind zwei Arten der Gewissheit, sie müssen beide gegeben sein, aber sie sind ungleichartig, die eine kommt anders zu Stande als die andere. Das kann man zwar dadurch beseitigen, dass man Menschen verpflichtet, das zu akzeptieren, was die Kirche lehrt. Es ist aber nicht akzeptabel, denn man kann eine historische Leerstelle nicht mit einer dogmatischen Aussage füllen.
Kuitert, "Kein zweiter Gott" 224
Jesus steht oder fällt mit dem christlichen Konzept von Gott und nicht umgekehrt. Gott steht oder fällt nicht mit Jesus. Ob Jesus wirklich Gottes Knecht war, ob er Gott gut erklärt hat, wie es die Christenheit glaubt, wird sich noch erweisen müssen. Wenn das christliche Suchkonzept von Gott erhalten bleibt, bleibt auch Jesus erhalten, und wenn nicht, geht er mit diesem Konzept verloren....
Kuitert, "Kein zweiter Gott" 226
Gerade als jemand, der in der Vergangenheit lebte und wirkte, ist Jesus eine nähere Bestimmung Gottes. Mehr noch, so kann er kein zweiter Gott werden, an dem die Gläubigen sich wenden, statt an Gott selbst. Als Mensch in dem Gott in der Vergangenheit handelte, ist Jesus in das Gotteskonzept | eingebunden. Ihn als historische Person von damals ins heute zu versetzen, ist nicht möglich, es braucht nicht zu sein und soll es auch nicht. Die christliche Kirche verkündet Gott und nichts anderes, aber Gott [JHWH] mit dem Merkzeichen Jesus.
Kuitert, "Kein zweiter Gott" 228
Andrew Perriman würde aufgrund seiner exegetischen Ergebnisse wahrscheinlich festhalten: Ob Jesus Gott gut erklärt hat, wie es die Christenheit glaubt, hat sich 313 n. Chr. mit Kaiser Konstantin erwiesen.
Was bleibt für heute?
- Wir können postbiblische Theologien und Christologien (z.B. Zweinaturenlehre) historisch-kontextuell ehren. Aber nicht als für immer gesetzt nehmen!
- Wir werden angeleitet, jüdische Suchkonzepte von Gott (JHWH) zu ehren: Die waren wirksam in der jüdischen Nationalgeschichte mit der Sprengkraft und Öffnung durch einen jüdischen Paulus für alle (umliegenden) Völker.
- Wir sollen Jesus | Paulus in seiner historischen Bedeutung ehren: im Sinne der New Perspective-Diskussion (perrimanianisch gelesen) war Jesus ein jüdisch-apokalyptischen Prophet für sein Volk in dessen Zeithorizont, und Paulus als Apokalyptiker wurde zu einem Prophet für das Imperium Romanum.
Der Sinn der dialektischen Methode (Kompass-Modell)
Wir arbeiten mit einem Kompassmodell, die eine Form dialektischer Reflexion sensu Wright* darstellt.
Der analytische Philosoph Georg Henrik von Wright hat der Dialektik eine kybernetische Deutung gegeben, indem er Dialektik als Kette negativer Rückkopplungen deutet, die jeweils zu einem neuen Gleichgewicht führen. Anders als die Dialektiker versteht von Wright die Verwendung logischer Begriffe innerhalb der Dialektik als metaphorisch, wobei etwa „Widerspruch“ für Realkonflikte steht. Damit trägt er der Kritik an den Dialektikern Rechnung, nach der sie einer Verwechslung zwischen logischen Widersprüchen, die nur zwischen Sätzen und Propositionen bestehen können, und realen Gegensätzen unterliegen würden, etwa zwischen physikalischen Kräften oder auch gesellschaftlichen Interessen.
Wikipedia
Mit den folgenden 2 Karten zweige ich zwei Kompassmodelle, die in die Komplexität neuer Christologie-Bildungen Orientierung bringen sollen. Vergrößere dir Kompass 1 | Kompass 2
Die Mitte des Kompasses kennzeichnet in Spannung stehende positive Aussagen. An den Rändern sind Konflikte oder einseitige Konzepte beschrieben. Gerne diskutieren wir mit dir über diese Ansätze im Omegakurs oder persönlich, wenn du unten eine Videokonferenz buchst.