Keiner ist gerecht, nein, nicht einer? Das stimmt „so“ nicht! (Teil 3b)

30.1.23 | [Original von A. Perriman] Lies zuerst Teil 1 hier und dann weiteres.
Eine offensichtliche Widerlegung des Arguments, dass Paulus die Existenz von ungläubigen, gerechten Heiden zulässt, die aufgrund ihrer guten Taten am Tag des Zorns Gottes gerechtfertigt werden, ist die Tatsache, dass er mit Nachdruck und unter Berufung auf die Heilige Schrift erklärt: „Keiner ist gerecht, auch nicht einer“ (Röm 3, 9). Daraus ergibt sich später dann die Grundannahme der reformierten Theologie:

Jede Sünde, sowohl die Ursprungssünde als auch die aktuelle, ist eine Übertretung des gerechten Gesetzes Gottes und steht im Widerspruch zu diesem und bringt ihrer Natur nach Schuld über den Sünder, wodurch er dem Zorn Gottes und dem Fluch des Gesetzes ausgeliefert ist und so dem Tod unterworfen wird, mit allem geistlichen, zeitlichen und ewigen Elend.

(Westminster Bekenntnis 6.6)

Achtung! Paulus vertritt hier jedoch keine reformierte Anthropologie, sondern er spielt auf einen lebendigen und für ihn aktuellen Dialog mit den Juden in den Synagogen an. Sein rhetorisches Bedürfnis besteht hier konkret darin, die Juden von ihrer Sündhaftigkeit und von der Plausibilität der prophetischen Ankündigung zu überzeugen, dass auch sie dem Zorn Gottes ausgesetzt sind.

Die Juden in den Synagogen stimmen leicht mit Paulus überein (vgl. Röm 2, 1), dass ihre götzendienerischen griechischen Nachbarn unter der Macht der Sünde stehen, aber er muss sie intensiv davon überzeugen, dass das Gesetz selbst die Juden als Volk unter die Macht der Sünde stellt. Wenn er also sagt: „Alle, Juden und Griechen, sind unter der Sünde“ (Röm 3, 9), liegt das argumentative Gewicht auf den „Juden“.

Aber es gibt noch eine weitere Unterscheidung, die die Kette der alttestamentlichen Zitate in Römer 3,10-18 in Einklang mit der realistischen und historischen Perspektive des zweiten Kapitels bringt. Wenn wir davon ausgehen, dass Paulus die Texte nicht willkürlich zitiert hat, sondern sich der Kontexte, aus denen er sie entnommen hat, voll bewusst war, muss er meiner Meinung nach von einer Standardeinteilung zwischen einer herrschenden gottlosen und ungerechten Schicht der jüdischen Gesellschaft und den rechtschaffenen jüdischen Armen, die unter den Händen der Bösen leiden, ausgegangen sein.

Systemische Ungerechtigkeit in Israel

Um dies zu verdeutlichen, werde ich jeweils das Zitat und dann den größeren alttestamentlichen Kontext, dem es entnommen ist, vorstellen und dort die sozial-religiöse Spaltung visuell hervorheben, die in jedem Fall auftritt.

„Keiner ist gerecht, nein, nicht einer; keiner versteht, keiner sucht nach Gott. Alle haben sich abgewandt und sind wertlos geworden; niemand tut Gutes, auch nicht einer.“ (Röm. 3, 10-12)

Der Narr sagt in seinem Herzen: „Es gibt keinen Gott.“ Sie sind verderbt, sie tun abscheuliche Dinge; da ist keiner, der Gutes tut. Der Herr blickt vom Himmel auf die Menschenkinder herab, um zu sehen, ob es auch Einsichtige gibt, die nach Gott suchen. Sie haben sich alle abgewandt; sie sind alle verderbt; keiner tut Gutes, auch nicht einer. Haben sie denn keine Einsicht, all die Übeltäter, die mein Volk auffressen, wie man Brot isst, und den Herrn nicht anrufen? Dort sind sie in großer Angst, denn Gott ist mit dem Geschlecht der Gerechten. Sie wollen die Pläne der Armen zuschanden machen, aber der Herr ist ihre Zuflucht. Ach, dass doch das Heil für Israel von Zion ausginge! Wenn der HERR das Glück seines Volkes wiederherstellt, soll Jakob frohlocken und Israel sich freuen.

(Ps. 14,1-7; vgl. Ps. 53)

Der Psalmist erklärt, dass niemand Gutes tut, sondern diese Übeltäter das Volk Gottes auffressen; es sind Juden, die den Namen des Herrn nicht anrufen; auf der anderen Seite ist Gott mit „dem Geschlecht der Gerechten“ und den „Armen“. Dass „keiner da ist, der Gutes tut“, ist also im Kontext keine absolute Aussage: Sie setzt das böse Verhalten einiger in Israel gegenüber anderen voraus.

Die Tatsache, dass Gott vom Himmel auf die „Menschenkinder“ herabschaut, mag den Geltungsbereich der Klage erweitern, aber dieser und verwandte Psalmen haben einen klaren erzählerischen Fokus auf Israel.

Der Herr prüft die „Menschenkinder“: Er „prüft die Gerechten, aber seine Seele hasst die Bösen und die, die Gewalttätigkeit lieben“ (Ps 11,4-5). Unabhängig davon, ob dies eine Reflexion über den Zustand Israels oder aller Menschen ist, erlaubt es eine Unterscheidung zwischen den Bösen, die Gewalttaten begehen, und den Gerechten. Dasselbe gilt für Psalm 12: Die Niederträchtigkeit wird unter den Menschenkindern gepriesen, aber die Armen und Bedürftigen sind nicht schuldig (12, 5. 8).

„Ihre Kehle ist ein offenes Grab; sie benutzen ihre Zunge, um zu betrügen.“ (3, 13)

Führe mich, HERR, in deiner Gerechtigkeit um meiner Feinde willen; mache deinen Weg gerade vor mir. Denn es ist keine Wahrheit in ihrem Mund; ihr Innerstes ist Verderben; ihr Rachen ist ein offenes Grab; sie schmeicheln mit ihrer Zunge. … Aber alle, die zu dir ihre Zuflucht nehmen, sollen sich freuen; sie sollen immerzu vor Freude singen, und du sollst deinen Schutz über sie ausbreiten, damit alle, die deinen Namen lieben, in dir frohlocken. Denn du, HERR, segnest den Gerechten; du deckst ihn mit Gunst wie mit einem Schild.

(Ps. 5:8-12)

Die Rede ist nicht von der Menschheit im Allgemeinen, sondern von Davids Feinden, die nicht die Wahrheit sagen, die zu zerstören trachten, deren Rachen ein offenes Grab ist, die schmeicheln, um zu täuschen. Diese Menschen werden den Gerechten gegenübergestellt, die ihre Zuflucht zum Herrn nehmen und seinen Namen lieben.

„Das Gift der Wespe ist unter ihren Lippen“. (3:13)

„Errette mich, Herr, von den bösen Menschen; bewahre mich vor den Gewalttätern, die in ihrem Herzen Böses planen und ständig Kriege anzetteln. Sie haben eine scharfe Zunge wie eine Schlange, und unter ihren Lippen ist das Gift der Ottern. … Ich weiß, dass der Herr den Elenden beisteht und den Bedürftigen Recht verschafft. Die Gerechten werden deinem Namen danken, und die Gerechten werden in deinem Angesicht wohnen.“

(Ps 140:1-3, 12-13)

Wiederum bringt das Zitat eine Erzählung über die tief verwurzelte Ungerechtigkeit in Israel ins Spiel: Gewalttätige Männer verschwören sich, um die Armen und Bedürftigen auszubeuten, die rechtschaffen und aufrecht sind.

„Ihr Mund ist voller Flüche und Bitterkeit.“ (3:14)

… dessen Mund voll Fluch und Bitterkeit und Betrug ist; unter seiner Zunge sind Kummer und Not. Er sitzt im Hinterhalt bei den Reichen, an geheimen Orten, um die Unschuldigen zu töten.

(Ps. 9:28-29 LXX = 10:7 hebräischer Text)

Der Psalmist fragt, warum Gott nichts unternimmt, um dem Verhalten des arroganten und gottlosen Sünders in Israel Einhalt zu gebieten, der die Armen umgarnt und erwartet, dem Zorn Gottes zu entgehen (Ps 9, 22-27 LXX). Der Sünder spricht gegen den Gerechten; er ist wie ein Löwe, der darauf wartet, sich auf den Armen zu stürzen und ihn wegzuschleppen.

„Ihre Füße sind schnell, Blut zu vergießen; auf ihren Wegen ist Verderben und Elend, und den Weg des Friedens kennen sie nicht.“ (3:15-17)

Ihre Füße laufen zum Bösen, und sie sind schnell dabei, unschuldiges Blut zu vergießen; ihre Gedanken sind Gedanken der Ungerechtigkeit; Verwüstung und Verderben sind auf ihren Wegen. Den Weg des Friedens kennen sie nicht, und es gibt keine Gerechtigkeit auf ihren Pfaden; sie haben ihre Wege krumm gemacht; niemand, der sie betritt, kennt Frieden. Darum ist das Recht fern von uns, und die Gerechtigkeit kommt nicht zu uns; wir hoffen auf Licht, und siehe, es ist finster, und wir hoffen auf Helligkeit, aber wir wandeln im Finstern.

(Jes. 59, 7-9)

Jesaja prangert hier ein Volk an, das die Wege JHWHs verlassen hat und sich der Gewalt und Ungerechtigkeit zugewandt hat (Jes 59, 1-6). Es ist eine systemische Sündhaftigkeit, die Israel von Gott trennt: „Deine Missetaten haben dich von deinem Gott getrennt, und deine Sünden haben sein Angesicht vor dir verborgen, so dass er dich nicht hört“ (59, 2). Die soziale Praxis der Rechtschaffenheit ist zusammengebrochen.

Dann sieht der Herr, dass kein Mensch zur Verfügung steht, um einzugreifen und die Situation zu bereinigen oder in Ordnung zu bringen, also beschließt er, selbst zu handeln. Er wappnet sich mit Gerechtigkeit, Heil, Rache und Eifer; er wird seine Widersacher richten, er wird die Ungerechtigkeit in Israel bestrafen, und „ein Erlöser wird nach Zion kommen, zu denen in Jakob, die sich vom Frevel abwenden“ (59, 17-20).

„Es gibt keine Gottesfurcht vor ihren Augen“.

Die Übertretung spricht den Bösen tief in seinem Herzen an; es gibt keine Gottesfurcht vor seinen Augen. … Oh, bleibe denen, die dich kennen, deine unerschütterliche Liebe, und deine Gerechtigkeit den Aufrichtigen im Herzen!

(Ps. 36, 1, 10)

Nach der Erfahrung des Psalmisten schließlich gibt es böse und hochmütige Menschen, die keine Furcht vor Gott haben, die glauben, dass ihre „Missetat nicht aufgedeckt werden kann“, und es gibt Menschen, die im Schatten von Gottes Flügeln Zuflucht suchen, die Gott kennen und „von Herzen aufrichtig“ sind.

Es waren also doch nicht alle ungerecht

Die Geschichte, die sich aus all diesen Abschnitten ergibt, ist ziemlich genau die Geschichte, die hinter dem Zitat aus Habakuk 2,4 in Römer 1, 17 steht. Die Gerechtigkeit Gottes wird durch die Tatsache in Frage gestellt, dass die Bösen in Israel mit Mord davonkommen; deshalb wird Gott eine heidnische Macht einsetzen, um das ungerechte Israel zu bestrafen. Aber damit bleibt das Problem des Schicksals der Gerechten in Israel, die Opfer der Bosheit sind, die zum bestimmenden Merkmal der Nation geworden ist:

So wird das Gesetz gelähmt, und die Gerechtigkeit bleibt auf der Strecke. Denn die Bösen umringen die Gerechten, und das Recht wird verkehrt. (Hab. 1, 4)

Ich würde also argumentieren, dass es in Römer 3, 9-19 das ungerechte Israel ist, das durch das Gesetz des Mose gerade deshalb verurteilt wird, weil die pietätlosen Reichen und Mächtigen, die von der jüdischen Gesellschaft insgesamt geduldet werden, die Gerechten verfolgt haben. Dies ist hier implizit, aber das Argument wird später wieder auftauchen….

Vielleicht würde also ganz Israel gerettet werden, vielleicht aber auch nicht

Es gibt eine letzte und, wie ich finde, sehr wichtige Beobachtung zu machen. Zwei der von Paulus in Römer 3, 10-18 zitierten alttestamentlichen Stellen liefern das Material, das später die in Röm. 11, 26-27 zum Ausdruck gebrachte Hoffnung untermauert, dass „ganz Israel gerettet werden wird“:

„Der Erlöser wird aus Zion kommen und die Gottlosigkeit aus Jakob vertreiben“; „und dies wird mein Bund mit ihnen sein, wenn ich ihre Sünden wegnehme“.

Dieses zusammengesetzte Zitat wurde mit Änderungen aus den griechischen Fassungen von Psalm 14, 7 und Jesaja 59, 20 (mit einem Satz, der auch aus Jesaja 27, 9 stammt) zusammengestellt:

Wer wird von Zion aus das Heil Israels verkünden? Wenn der Herr die Gefangenschaft seines Volkes wendet, soll Jakob frohlocken und Israel sich freuen. (Ps. 13, 7* LXX)

Und der Erlöser wird um Zions willen kommen, und er wird den Frevel von Jakob abwenden

(Jes. 59, 20* LXX).

Die Verurteilung der systemischen Schlechtigkeit Israels als Ganzes nahm also bereits die spätere Hoffnung vorweg, dass ganz Israel – und nicht nur einige wenige – gerettet werden würden. Es ist die Geschichte Israels, die hinter der scharfen Verurteilung der Sünde in Römer 3, 9-18 steht – eine Geschichte des Versagens der Gerechtigkeit, der Ausbeutung der Armen durch kaltschnüzige und gottlose Eliten. Es blieb (für Paulus also) abzuwarten, ob der Zorn Gottes ganz Israel zur Umkehr bringen würde.

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