Hier referiere ich einen Aufsatz vom Apr 30, 2021 aus der online-Zeitschrift CURSOR für explorative Theologie, der anlässlich der Fakenews-Debatte um Corona und dessen Einordnung entstanden ist. Er ist aber auch überzeitlich sinnvoll vor allem, um die kritischen Potentiale von Theologie in den Blick zu bekommen.
Kritik bringt uns mit der Zufälligkeit herrschender Ordnungen in Kontakt, eingeschlossen ihrer Mechanismen der Unterwerfung, Subjektivierung und Sozialisierung, und fragt kreativ nach Alternativen. Was lässt sich hier, wo die Ungewissheit menschlichen Lebens in der COVID 19-Krise aufscheint, gegebenenfalls entdecken, auffinden, erfahren oder entwickeln? Was muss hier womöglich auch an Verlust und Neubeginn riskiert werden?
Alle diese Momente, in denen Kritik aufbricht, haben etwas gemeinsam: Eine Struktur wird nicht etabliert oder bestärkt, sondern im Gegenteil: Innerhalb gegebener Ordnungen des Denkens, der Sprache, des Handelns und der Sichtbarkeit tritt ein Riss, Bruch, eine Irritation bzw. eine Differenz auf. Wie durch einen Spalt fällt Licht auf eventuell bisher verborgene Ordnungen und Strukturen, und wie in einem Spiegel treten eventuelle Regulative hervor. Mit deren Ungewissheiten taucht zugleich die Frage nach ihrer kreativen Veränderung auf. Dort, in der Erfahrung der Differenz, liegt (formell betrachtet) ein möglicher Anfang von Kritik.
Kritik kann sich auf Differenz reflexiv beziehen, muss aber nicht (mehr) in die Differenzerfahrung involviert sein
Insofern Theologie sich in diesem Sinn auf Gott als das Andere bezieht bzw. sich von dort her ergibt, gehört zu ihr maßgeblich ein Differenzmoment; Theologie verbindet sich also mit einer Erfahrung von Differenz. Gottesbezüge verschieben sich stets hinsichtlich ihrer eigenen Praxis und – grundlegender – riskieren eine Annäherung an eine unendliche, unverfügbare Differenz, die gegenwärtige Strukturen aufbricht. Darin steckt eine Dynamik der Kritik. Denn in Bezug auf Gott wird eingeräumt, dass eigene Sprech-, Sicht-, und Handlungsweisen relativ sind; deren Grenzen treten hervor, und es wird die Frage aufgeworfen, wie hier nun anders gesprochen werden kann oder muss.
Wie anders sprechen?
1. Kontextualisiertes Hören, Sprechen, Darstellen
Will sich Theologie als eine spezifische Form von Kritik verstehen, braucht sie eine tiefe Einsicht in die Verwobenheit von Diskursen, Macht und Identität. Will sie aber kritisch an diesen gesellschaftlichen Diskursen teilnehmen, muss sie nicht nur kritikfähig bleiben, sondern auch ihren eigenen Standort kennen und verfolgen, wie dieser sich verändert. Einer kritischen Theologie geht es nicht darum, alles nur normativ zu kritisieren, sondern die „bessere“ deskriptive Analyse anzubieten.
Daher verschränken sich in kritischer Theologie drei Grundpraktiken:
- Hören in einem Kontext bzw. auf einen Kontext,
- Sprechen und
- (auch non-verbales) Darstellen innerhalb gegebener Situationen.
2 Hegemoniekritik
Eine kritische Theologie ist machtkritisch. Dies zeigt sich mitunter darin, dass sie sich gegen Vereindeutigungen wehrt (Queer Theologies), beispielsweise indem sie nicht primär/ausschließlich kanonisierte Quellen sucht (vgl. Oral History, Postcolonial Theologies). Sie weiß darum, dass sie Erbin einer kolonialen, androzentrischen, anthropozentrischen und weißen Theologie ist, innerhalb derer erlernt wurde, wer nichts zu sagen hat. Ein aktives Ver-Lernen ihrer theologischen Prämissen identifiziert sie als „Zeichen der Zeit“.
- hohe Sprachsensibilität
- in der Lage, präzise zu analysieren, was auf welcher Seite schiefläuft.
- Nähe zu einem gelebten Glauben stößt sie immer wieder auf die Notwendigkeit, einen wissenschaftlich ausgefalteten Gedanken zu vermitteln
- Ein Problem kritischer Theorien scheint hingegen eine grob falsche populistische Wendung ihrer erkenntniskritischenThesen: ‚Wenn alles Wissen sozial konstruiert ist, wenn also jeder seine Wahrheit haben kann, dann darf ich auch an die große Weltverschwörung glauben. Nein!
- Mit Blick auf eine solche aktuelle Verfremdung ist die Angst vor einer zu einfachen Sprache durchaus gerechtfertigt. Aber ohne eine verständliche Sprache hat Theorie keine Chance, dem eigenen Anspruch entsprechend gesellschaftlich wirksam zu werden.
3 Selbstkritik
Sie hat ein Bewusstsein dafür entwickelt, dass Irren nicht nur menschlich ist, sondern Normalität darstellt, da sie nie davon ausgehen kann, bereits alles erforscht zu haben. Etwas, das heute als wahr gilt, kann in kurzer Zeit überholt sein. Damit ist eine kritische Theologie vor allem gute Wissenschaft: Das heißt, sie ist offen dafür, sich auch irren zu können.
Indem der eigene Kontext offengelegt wird, ist dieser für Interpretationen durch andere freigegeben. Vielleicht ist auch eine gewisse Risikofreude mit dieser Form von Theologie verbunden. Auch wenn diese Art des Äußerns/Theologie Treibens angreifbar macht, bringt sie eine Offenheit, die einen Austausch fördert und fordert.
- Eigene Schwächen zugeben: Wo geht es mir nicht wirklich um sachliche Argumente, sondern um die Stärkung der eigenen Position oder um die Verteidigung der Wirkmacht eigener Prämissen?
- Es kann ihr nicht darum gehen, lebensweltliche „Brüche“ glätten, negieren, auflösen oder einebnen zu wollen; damit steht sie in einem gewissen Kontrast zum Programm vieler pastoraler Ansätze und im Kontrast zu vielen wissen(schaft)s-biografischen Darstellungen.
- Wie inszeniere ich mich? Wie inszenierst du dich? Wie „schreibe“ ich mein Leben? Wie „schreibst“ du dein Leben? Wie „schreibe“ ich dein Leben – wie „schreibst“ du meines? Wie gehe ich mit eigenen Brüchen, Verletzungen, der eigenen Vulnerabilität um?
- Explikation des Zusammenhangs von eigener Biografie und Forschungsabsicht zunächst in den Mittelpunkt rücken. Solch eine Theologie ist zwar bislang unüblich für den deutschsprachigen Wissenschaftskontext, trägt aber der Tatsache Rechnung, dass es keine „neutrale“ Forschung gibt
- Wie sind wir als Subjekte einer kritischen Theologie eingestellt und was treibt uns an? Letztlich geht es wahrscheinlich wieder darum, bestehende Zustände zu verbessern oder zumindest zu ändern.
5 Perspektiven der Hoffnung
Mit dem Aufbrechen eigener alter Gewissheiten ist immer auch die Hoffnung verbunden, selbst Hoffnung geben zu können. Unter Hoffnung verstehen wir ein „Für-Möglich-Halten“ einer gelungenen Zukunft; dazu gehört auch, hoffen zu dürfen, „dass nicht alles umsonst war“. Hier liegt die Schnittstelle von Immanenz und Transzendenz. Der Glaube an Gott ermöglicht es, die Abgründigkeit des Lebens zu thematisieren, ohne in Ohnmacht abzurutschen. Darin steckt das Potenzial von Theologie – genauer: von einer kritischen Theologie.
Der Blick in den Abgrund ist nichts, was man einfordern kann. Vielleicht nicht einmal etwas, das man wirklich „tut“, sondern etwas, das mit einem geschieht. Glaube kann dabei helfen, diesen Blick zu wagen, zu ertragen. Möglich ist er aber auch ohne den Glauben oder die Hoffnung an bzw. auf eine mögliche gelingende Zukunft.
4. Dynamik kritischer Theologie: Engagement für eine offene, dissensfähige Gesellschaft
Kritische Theologie muss sich stets der Gefahr eines Abgleitens in die Bestätigung bestehender oder Errichtung neuer Ordnungen bewusst sein. Ihr Ziel ist die „Verflüssigung“ und Infragestellung bestehender Macht- und Diskursstrukturen. Auch der Entwurf alternativer Lebens- und Denkentwürfe kann jedoch eine moralische Diskursmacht entfalten, die selbst wieder der Infragestellung bedarf, um nicht eine bestehende durch eine andere feste Ordnung zu ersetzen.
Eine dem entsprechende Wissens- und Sozialform ist vergleichbar mit einer Collage: vielfältige, plurale Elemente werden miteinander in Beziehung gesetzt (wir nennen es Kaleidoskop), wobei die Struktur zugleich die Fähigkeit behält, Inkohärenzen auszuhalten, ohne die Beziehung aufzugeben.
- Fähigkeit zur permanenten Infragestellung durch ihre Beziehung zu Gott, die reflexiv unter Bedingungen der jeweiligen Gegenwart entfaltet wird
- Sie wird zu einer Form radikalisierter Kritik, einer radikalisierten Form kritischer Theorie und Praxis. Denn in ihren Prozessen wird ein Alteritätsbezug verkörpert, der immer über sich hinausführt und neue Perspektiven eröffnet.
- Eine solche kritische Theologie entfaltet Impulse für eine offene Gesellschaft, die dissensfähig und pluralitätsfähig ist.
Kritische Theologie hält Gesellschaften offen und hegt dabei eine besondere Sensibilität für prekäre Lebensverhältnisse. Sie fragt nach „Leben in Fülle“, betont aber auch die Strukturen, die Leben prekär oder auch unmöglich machen. Zugleich fragt sie nach notwendigen Veränderungen von Lebensbedingungen im Hier und Heute, die über die problematischen Lebensbedingungen hinausführen.
…abschließend mit einem kritischen Blick auf die Anti-Corona-Proteste und ihre religiöse Semantik zu schauen
Zwar beziehen diese Protestformen sich auch auf „Kritik“ und nehmen in Anspruch, hegemoniale Strukturen aufzudecken und ihnen zu widerstehen; aber treten sie wirklich für eine offene Gesellschaft ein, die lebbar ist und leben lässt? Nein! Das lässt sich daran festmachen, dass
- herabsetzende Sprache verwendet wird, etwa in Beschimpfungen von Pressevertreter:innen oder Gegendemonstrant:innen („Lügenpresse“, „mainstream-gesteuert“)
- sie zugleich eine wirklich themenbezogene, differenzierende Kommunikation verweigert
- sie den Gesprächsraum gerade abschließt, indem sie jemanden in einer bestimmten Weise adressiert, die eine Kommunikation verunmöglicht
- sie in performativen Widerspruch auttritt, wo für Freiheit eingetreten wird, dabei aber gezielt Hygienemaßnahmen gleichzeitig nicht beachtet werden
- sie sie damit außerdem riskieren, dass Andere erkranken, gegebenenfalls auch schwer.