Der Forschungsstand zum Apokalyptik-Verständnis der historisch-wissenschaftlichen Forschung hat sich in den letzten 200 Jahren immer wieder verändert. Das hat Gründe. Die Einordnung der „Apokalyptik“ als Begriff oder Konzept ist für eine sachgemäße Interpretation des neuen Testamentes entscheidend. An dieser Stelle entscheiden sich die Jesusbilder, die Jesus-Botschaft, die Reich-Gottes-Vorstellung. Alles eben.
Seit Beginn der historisch-kritischen Forschung ist die Entdeckung der Apokalyptik turbulent diskutiert worden. In Abgrenzung zu heutiger fundamentalistischer Interpretationen, versucht historische Forschung Entstehungsgeschichte, und Rezeption im Neuen Testament durch Jesus, seine palästinensische Ur-Gemeinde, die hellenistischen-jüdische Tradition zu deuten.
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Dabei ist auffällig, dass die Einordnung dieser Apokalyptik-Konzeptionen meist aus theologischen Gründen (systematisch-theologische Festlegungen, bzw. „Vorurteile“) konträr bewertet wird. Weitere Hintergründe erläutert Klaus Koch in seiner Streitschrift: Ratlos vor der Apokalyptik, 1970. Klaus Koch hat mit seinem berühmten Diktum in dieser Streitschrift das Problem mit dem seither oft zitierten Satz auf den Punkt gebracht: Kapitel VI: „das angestrengte Bemühen, Jesus vor der Apokalyptik zu retten. Die kontinentale neutestamentlicher Wissenschaft“ (S. 55-90). Diese Auseinandersetzung wurde dann bis 1999 von ihm in Zeitschriften und Aufsätzen ausführlich weiterreflektiert und mit Kontrahenten geführt.
Jörg Frey, beschreibt in seinem Aufsatz 2006 die Apokalyptik als andauernde Herausforderung der neutestamentlichen Wissenschaft. Zum Schlüsselproblem „Jesus und die Apokalyptik“ meint er: diese Diskussion habe sich historisch geklärt, dabei seien internationale Forschungsergebnisse führend gewesen.
Klassische Interpretations-Linie (Mainstream)
- Seit Wellhausen gibt es die sogenannte Propheten-Anschlusstheorie: Jesus wird historisch direkt an die Propheten als der letzte Prophet Gottes angeschlossen. Problematisch ist die Konstruktion der Geschichte Israels im Zwischenzeitraum als 500 Jahre Niedergang jüdischer Theologie. Damit werden ethische Aussagen Jesu (als prophetische Kritik) eingeordnet und ein der Moderne anpassbares moralisch dominiertes Jesusbild als Weisheitslehrer und prophetischer Verkündiger entwickelt.
- Geschickt wurde mit den Unterscheidungen zwischen „weltverneinender“ Apokalypse und aufblitzende „Hoffnung im Hier und Jetzt“ als Eschatologie ein Gegensatz aufgebaut.
- Mehr oder weniger werden Jesu palästisische Gemeinde und sein Vorgänger, Johannes der Täufer, zwar als Apokalyptiker beschrieben, doch Jesus selbst hätte diese Strömung nicht vertreten und sich davon in eigentümlicher Weise selbst unterschieden und distanziert.
- Gerade die Reich-Gottes-Konzeption Jesu wäre als Antithese zum bisherigen apokalyptischen futurischen Verständnis als eine präsentische Konzeption von ihm entwickelt worden. Und was ist mit den futuristischen Aspekten in seinen Reden? Diese seien nicht original Jesus-Worte, bzw. von ihm nur als Sprachform genutzt, der symbolische Kern seiner Botschaft (Kerygma) sei weisheitlich, prophetisch geprägt.
Religionsgeschichtliche Interpretations-Linie
- Die religionsgeschichtliche Schule ordnet Jesus deutlich gegensätzlich in die Spur der apokalyptischen, außertestamentarischen Texte ein. Ihr treffendes Argument: Nur so lasse sich eine historisch plausible Wirkungsgeschichte konstruieren. Jesu Nähe zur jüdischen Theologie, zum Thoraverständnis als ein vor allem unterscheidender soziologischer Marker zur Grenzziehung zwischen Juden und Heiden (vgl. New Perspective on Paul) wird dominant.
- Ein neuer Apokalypse-Begriff entsteht, der nicht so sehr auf futurische Zeitdimension fixiert sei. Die Unterscheidung zwischen futurischer Apokalypse und präsentischer Eschatologie sei nur aufgrund theologischer Vorbehalte eingeführt worden und ist historisch nicht plausibel zu machen.
- Und am Wichtigsten: Man könne Jesus historisch nicht aus seinen Vorgängern und seiner Rezeptionsgeschichte ausgliedern, als wäre er direkt vom Himmel gefallen.
- Jesu Reichs-Gottes-Konzeption kann nur apokalyptisch verstanden werden, genauso wie die wesentliche Inhalte der Predigt Jesu: Menschensohn Vorstellung, Gerichts-/Rettungvorstellung, Höllen-Konzept, Engel-Dämonen-Satankonzept, das Auferstehung-Konzept (als Anbruch der Endzeit) selbst.
Vertreter in dieser Spur mit seiner so genannten „konsequenten“ Eschatologie Jesu war Albert Schweitzer (1901) Er entwarf einen Jesus als Apokalyptiker, dessen radikale apokalyptischen Erwartung sich historisch nicht erfüllt haben. Damit bliebe für Schweizer als Botschaft Jesu übrig, selbst zum Humanisten zu werden.
Im Gefolge seiner Deutung kam in der neutestamentliche Theologie der Nachkriegszeit die heftige Diskussion über die Naherwartung bzw. Parusieverzögerung als das große Problem der urchristlichen Kirche auf, die sich, so wissen wir heute, aber in den biblischen Texten nicht nachweisen ließ.
Der Bultmann-Schüler Ernst Käsemann setzte mit seiner berühmten These die Apokalyptik „als Mutter der christlichen Theologie“ zwar gegen seinen Lehrer ins Zentrum seiner Exegese. Er löste damit einen Sturm der Entrüstung und Diskussion aus. Auch wenn er faktisch seine Apokalyptik konzeptionell eher „eschatologisch“ deutete.
Systematische-theologische Interpretations-Linie
Was ist hier eigentlich im Interprationsdschungel geschehen? Wie kommt es zu solch gegensätzlichen Deutungen des Jesusbildes. Albert Schweizer stellt in seinem berühmten Werk „Die Geschichte der Leben-Jesu-Forschung“ am Ende fest, dass fast alle „Leben-Jesu“-Entwürfe die ethischen Ideale ihrer Autoren in die Texte hineinprojizierten. Forschungsergebnisse sind vor allem durch die systematisch-theologische Interpretationslinie gefärbt, wenn nicht sogar begründet, also die Theologie des Autoren. So hat seit 1918 mit dem Aufschlag von Karl Barth die Wort-Gottes-Theologie das 20. Jahrhundert geprägt. Dialektische Theologie war Grundlage für den Mainstream-Theologen der späten Neuzeit:
- Bultmanns Existentiales Entmythologisierungsprogramm,
- lutherisch individualistische Rechtfertigungstheologie
- Barthianische dialektische Wort-Gottes-Theologie
- pietistisch individualistische Gerichts- und Rettungsvorstellung
Es gab wenige Außenseiterpositionen, die systematisch theologisch die Apokalyptik in ihr Konzept aufnehmen konnten. Allen apokalyptikfreundlichen Theologien war ein neuer Ansatz mit einer politisch orientierten, empirisch geschichtlichen Perspektive gemein.
Die Reihenfolge unten zeigt, wie unterschiedlich die Rezeption der apokalyptisch orientierten Theologie verlief. Von einer 1. fundamentalen bis zu einer eher abnehmenden 3. peripheren Nutzung apokalyptischer Motive lässt sich die Bandbreite unterscheiden.
- Wolfhard Pannenberg: der eine kontinuierlich–universalgeschichtliche Perspektive aus der apokalyptischen Geschichtstheologie entwickelte
- Jürgen Moltmann, der mit seiner Theologie der Hoffnung mehr die Diskontinuität der Apokalyptik zwischen Abbruch dieses bösen Reiches und neuem Anbruch des guten, göttlichen Reiches favorisierte.
- Gerhard Sauter »ist mit seinem Ansatz „Zukunft und Verheißung“ dabei, Theologie als angewiesen auf eine Zukunftsorientierung zu beschreiben. das apokalyptische Bild als Antizipation von Zukunft bringt jede nur fixierte Welt ins Gleiten.«
International-theologische Interpretations-Linie
Seit dem Ersten Weltkrieg haben sich die englischsprachigen Historiker, Exegeten und systematisch-theologischen Entwürfe voneinander entfernt. So kann man von einem deutlichen Forschungsunterschied zwischen Kontinentalerforschung und internationaler Forschung bis in die späten 70ger sprechen.
Apokalyptik wurde auf dem Kongress in Uppsala 1979 zu einem international gemeinsamen Forschungsgegenstand. die Menge der Forschung ist seitdem deutlich im internationalen Kontext (englischsprachige Welt) zu verorten.
Deutungsmuster
Unterschiedliche Gründe haben zu unterschiedlichen und neuen Deutungen für die Apokalyptik als Phänomen geführt.
- Ältere Apokalyptik Definitionen fußen auf wenigen Text Zeugen.
- Die neuere Forschung integriert die neuen Funde von Qumran und weitere altorientalische Textzeugnisse aus Iran, Ägypten, Griechenland und römischer Texte.
- Hauptsächlich theologische Begründungen (Vorurteile) führten zu einer deutlichen Abwertung und historischen Abwehr gegenüber apokalyptischen Texten.
»Es lässt sich theologisch nachvollziehen, warum die neutestamentliche Wissenschaft mit einer solchen Verbissenheit versucht hat und zum Teil heute noch versucht, Jesus zur Apokalyptik in Distanz zu bringen, ihn vor der Apokalyptik zu retten. Historisch ist ein solches Unterfangen praktisch aussichtslos. Es gibt keinen historischen Grund, jene „weltbildhaften“ Züge wie die Erwartung einer künftigen Durchsetzung der Gottesherrschaft oder eines noch ausstehenden göttlichen Gerichts oder die Vorstellungen von theologischen Gegenspielern, Dämonen und einem bevorstehenden (oder schon begonnenen) eschatologischen Kampf vom irdischen Jesus fernzuhalten. Jesus hat diese Vorstellungen geteilt, und sie bilden einen nicht zu unterschätzenden Bestandteil seiner Verkündigung.«
Jörg Frey, S.90
Hermeneutische Interpretationslinien
»Muss man Jesus „vor der Apokalyptik retten“, um die Wahrheit des Evangeliums von dem erwiesenen Irrtum hinsichtlich der Naherwartung seiner Parusie und vor den als unangemessen erkannten spekulativen Ausmalung von Gericht und Heil zu schützen?
Angesichts der schlechterdings zentralen Stellung der Gestalt Jesu von Nazareth für die weitere christliche Verkündigung stellen sich die Fragen nach der Verbindlichkeit der „Weltbildhaften“ Züge der neutestamentlichen Verkündigung zu allererst anhand seiner Person und Botschaft.
Deshalb erweist sich die Apokalyptik hier, im Bezug auf den irdischen Jesus, am deutlichsten als Herausforderung für die neutestamentlicher Wissenschaft – sofern sich diese nicht lediglich als Religionswissenschaftler sieht, sondern als Disziplin im Rahmen der christlichen Theologie zugleich die Frage nach dem Geltungsanspruch der von ihr behandelten Texte mitzubedenken versucht. Die hier aufbrechenden hermeneutischen Fragen können im vorliegenden Rahmen nicht mehr erörtert werden. Nur ein wenige Hinweise müssen genügen:« (Jörg Frey, S. 91)
- Eine wichtiger Forschungsentwicklung ist festzustellen: die neuere Apokalyptikforschung hat viel differenzierter und präziser das Anliegen und die theologische Leistung der apokalyptischen Texte erhoben,
- Apokalyptik als Bewältigung der Gegenwart: » wenn man sie als symbolische Sinnwelt begreift, die für ihre Trägerkreise eine durchaus wesentliche Funktion zur Bewältigung ihrer eigenen Gegenwart, ihrer Welterfahrung und vor allem auch der Erfahrung von Fremdherrschaft, Unrecht und Gewalt hatten…. diese religiösen Werte apokalyptischer Bildwelten lässt sich im Horizont von Methodenkonzepten wie der Mythos-und Metapherntheorie oder auch der Wissens- Soziologie (in) heute sehr viel angemessener Weise zur Darstellung bringen, als dies der älteren Forschung mit ihren beherrschenden liberal-theologischen oder kerygma-theologischen Werturteilen möglich war« (Frey S. 92)
- Beachte die Besonderheit der biblischen Apokalyptik-Konzepte: im Unterschied zur allgemeinen sprachlichen Begrifflichkeit als Weltuntergang und endzeitlicher Katastrophen gilt es, »die biblisch-theologische Einsicht geltend zu machen, dass die leitende Perspektive dieser Texte die Aussicht auf das endgültige Heil und die Überwindung von Unrecht, Leid und Tod ist, und dass auch die Vorstellungen von einem göttlichen Gericht letztlich im Dienste der Aufrichtung von Gerechtigkeit stehen und daher keineswegs leichthin eliminiert werden können – weder in der Verkündigung Jesu noch in anderen urchristlichen Traditionszusammenhängen.« (Frey, S. 93)
- Welche heutige Bedeutung können solche Texte vermitteln? »Systematisch-theologisch wäre weiter zu fragen, ob nicht die Weltwahrnehmung der Apokalyptiker durchaus eine Reihe von Elementen enthält, die dem neuzeitlichen Denken zwar weithin fremd erscheinen, aber nicht leichthin von der Hand zu weisen sind. … Zu bedenken bleibt aber z.B., ob die in der Apokalyptik entwickelte Sicht der vom Bösen zutiefst „korrumpierten“ Welt und die daraus folgenden Vorstellungen der Erlösung als einer „neuen Schöpfung“ nicht den Erfahrungen von Unrecht, Leid und Tod eher zu begegnen vermögen als andere, anthropologisch und harmartiologisch „optimistischere“ Entwürfe. Die Frage, was dann „wahr“ ist an der Apokalyptik, wäre sehr viel tiefgründiger zu erörtern, als dies in der schnellen Abweisung spekulativer Endzeitberechnungen geschieht.« (Frey, S. 93)
- Der hermeneutische Turn zum Adressaten verändert alles: »Eine letzte hermeneutische Einsicht entspringt der textpragmatischen Forschung und betrifft die in der Exegese mittlerweile deutlicher gesehen Rezipientenorientierung der neutestamentlicher Texte.
- Dass es historisch und theologisch unangemessen ist, biblische Texte als dicta probantia für „überzeitliche“ und „allgemeingültige“ Lehren zu verwenden, ist in der kritischen Exegese der Neuzeit immer wieder – gegen den Schriftgebrauch der älteren Theologie – festgehalten worden.
- Aber die Versuche, die „weltbildhaften“ Elemente aus der Verkündigung Jesu kritisch zu eliminieren, spiegeln ein durchaus analoges Anliegen, als Verkündigung Jesu ein für „den“ modernen (oder postmodernen) Menschen akzeptables und applikables Bild zu rekonstruieren (das freilich entsprechend der leitenden Grundorientierungen sehr unterschiedlich ausfallen kann).
- Demgegenüber ist immer wieder zu betonen, dass diese Worte keine „zeitlosen“ Wahrheiten verkündigen, deren propositionaler Gehalt dann als verbindliche Lehre zu gebrauchen wäre. Auch wenn die Adressatenorientierung der Worte des irdischen Jesus durch den Prozess der Überlieferung, Modifikation und Sammlung häufig verdunkelt ist, wird man stets damit rechnen müssen, dass der Zuspruch des Heils an die Armen, Hungernden und Weinenden (Lk. 6,20f.), ebenso wie die Drohungen gegen die Generation seiner Zeitgenossen oder die galliläischen Orte seines Wirkens in einer konkreten Situation und einem spezifischen Adressatenbezug formuliert wurden. Der Zuspruch ist ebenso konkret wie die Drohung, und es bedarf einer nicht unbeträchtlichen hermeneutischen Reflexion, wenn man aus solchen ursprünglich präzise adressierten Worten erheben will, was denn – im Rahmen der Verkündigung späterer Generationen – Gültigkeit beanspruchen kann….
- Wenn man – aus historischen und theologischen Gründen– eine Kontinuität zwischen der vorösterlichen Situation und der nachchristlichen Verkündigung nicht völlig leugnen will, dann wird man sich auch den apokalyptischen Elementen in der Verkündigung Jesu stellen müssen und nach ihrem Beitrag zur „Wahrheit des Evangeliums“ im Ganzen zu fragen haben.« (Frey, S. 94)