„Fresh Expressions of Church“ – wie frisch ist die Theologie dieser innvovativen Kirchen wirklich?

Michael Moynagh , Autor und einer der Väter der Fresh X-Bewegung in der Anglikanischen Kirche Englands, entwickelt in seinem Buch „Fresh Expressions of Church“ (2018) eine Theorie für die Praxis in der postmodernen säkularen Welt Kirche plausibel zu gestalten. Birgit Dierks aus unserem nuPerspective-Team ist Koordinatorin des Fresh-X-Netzwerks in Deutschland. Mit diesem Beitrag versuche ich das theologische Schlüsselanliegen von Moynagh kurz zu skizzieren und kritisch die Stärken und Schwächen dieser Perspektive zu bewerten.

Die Mission von Fresh X

Mit fresh expressions of church kommt Kirche wieder dem Alltag der Menschen näher. In ihnen wird nicht deduktiv und top-down gehandelt, sondern eher reflexiv, unternehmerisch und experimentell. Und in einem Rahmen subjektiv verantworteter Spiritualität wird hier zur Nachfolge Jesu eingeladen. Glaubensvermittlung muss dabei stark den Charakter einer Exploration widerspiegeln. Und statt top-down ist eher ein „Leading from behind“ hier angesagt. Theologisch bringt FreshX zudem ein neues Nachdenken über Ecclesia und Gemeinde, damit diese neuen Ausdrucksformen von Ecclesia als biblisch begründet gesehen und nicht als exotisch abgeschrieben werden. Was ist der Grund, die Mission für diesen Kirchenaufbruch. Es ist die Sendung Gottes selbst: Missio dei.

Missio dei meint, dass Mission zunächst und vor allem eine Aktivität Gottes ist. In der Schrift finden wir einen Gott mit einer Mission, eine Menschheit mit einer Mission, ein Israel mit einer Mission, Jesus mit einer Mission und die Kirche mit einer Mission. Gott ist im Kern missional.

Die Kirche übernimmt nicht diese Mission und bittet dann Gott sie zu segnen. Vielmehr: Gott selber lebt seine Mission – und fragt und bittet die Kirche, ihm darin zu folgen.

Das „nach außen gehen“ gehört elementar zum Charakter Gottes, es ist nicht sekundär.

Missio und Sendung allerdings ist nicht präzise genug als Begriff. Worin besteht die Sendung Gottes und welchen Charakter hat sie? Biblisch gesehen kann sie am besten mit dem Begriff der Selbsthingabe beschrieben werden.

Selbsthingabe innerhalb des dreieinigen Gottes

Gottes Selbsthingabe nach außen hat seinen tiefsten Grund in der Selbsthingabe, die innerhalb der Trinität geschieht. Der Vater übergibt alles seinem Sohn, überträgt ihm den ganzen göttlichen Auftrag. Der Sohn ist – in Selbsthingabe – ganz und gar gehorsam gegenüber dem Vater, er „tut nur, was er den Vater tun sieht“. Und er wird am Ende der Zeiten alle Herrschaft dem Vater übergeben. Diese wechselseitige Hingabe zwischen Vater und Sohn bekommt noch eine dritte Gestalt.

Hans Urs von Balthasar sieht in der sexuellen Hingabe zwischen Mann und Frau dies ein Stück weit abgebildet – eine Hingabe, die neues Leben hervorbringt. So ist auch der Heilige Geist ein Ausfluss der Trinität, wird vom Vater und vom Sohn gesandt. Er hat aber keine eigene Agenda, er führt zur Erkenntnis Jesu Christi, er ist der Geist der Selbsthingabe.

Selbsthingabe Gottes – von der Schöpfung bis zur Sendung der Kirche

Schöpfung heißt nicht, dass Gott Vorhandenes neu zusammensetzt, so wie ein Maler ein Gemälde aus vorhandenen Farben generiert. Er setzt etwas aus sich selber heraus. Damit ist schon in der Schöpfung ein Akt der Selbsthingabe sichtbar.

In der Erlösung ist dies offensichtlich: Gott gibt sich in Jesus selber hin am Kreuz. Die Ablehnung der Menschen gegenüber der Gabe des Sohnes, der in die Welt kommt – für die das Kreuz steht – wird durch eine neue Gabe und Hingabe umgedreht: durch die Gabe der Auferstehung des Gekreuzigten.

Auch das Reich Gottes ist, wie die erste Schöpfung, eine Selbsthingabe Gottes. Das Aufrichten seiner Herrschaft entspringt ganz aus ihm. Seine Herrschaft besteht in der Umkehrung menschlicher Herrschaft – in der Selbsthingabe als eigentliches Mittel seiner Sendung und Aktivität. Dienst ist das Zauberwort.

So ist auch die Kirche eine Gabe Gottes, nicht nur für die Gläubigen, sondern für die ganze Welt. Sie ist Vorgeschmack und Zeichen, sie ist Verkünderin des Reiches Gottes. Kirche ist nicht eine menschliche, religiöse Sozialisationsform, sondern nach der Bibel das „leibhaftig werden“ von Christus. Sie ist sein Leib. Er gibt sich selber hinein in die Welt damit.

Fazit:

Selbsthingabe ist also nicht ein Aspekt der Mission Gottes unter vielen, sondern die grundlegende Form der Sendung, das Herz der Mission.

Drei gute Gründe für Re-Kontextualiserung

• Der erste Grund liegt in der täglichen Erfahrung. Jede echte Begegnung, jedes echte Gespräch setzt voraus, dass wir uns gedanklich in die Welt des anderen begeben, uns in Ton, Sprache und Verhalten auf ihn einlassen. Anders formuliert: es ist eine Frage der Höflichkeit und der Liebe, den Kontext des anderen ernst zu nehmen und sich entsprechend zu verhalten. Paulus macht das deutlich in 1. Korinther 9,20ff.

• Die Bibel ist Gottes Wort im Menschenwort. Deshalb gibt es verschiedene Bücher aus verschiedene Zeiten, deshalb braucht es ein historisch-kritisches Verständnis. Auch die Offenbarung in Jesus war kontextualisiert: er sprach Aramäisch, hatte einen galiläischen Akzent, benutzte die Bilder seiner Umgebung. Und er argumentierte mit Pharisäern anders als mit Bauern und Fischern. Auch die Gestaltwerdung des Leibes Christi in jeder Gemeinde folgt dieser Spur. „Genauso wie Jesus jüdisch war bis in die Fingerspitzen, genauso wird eine neue Ausdrucksform seines Leibes bis in die Haarspitze hinein einem spezifischen Kontext entsprechen.“ (S. 203)

• Zum dritten bezieht sich Re-Kontextualisierung auf das kommende Reich Gottes. Wenn Gott einst in jedem Segment seiner Schöpfung ganz gegenwärtig sein wird, soll Gemeinde davon heute schon etwas widerspiegeln. Gemeinde zeigt, wie die neue Welt (in Anfängen) in einem Milieu, einer bestimmten Kultur, einer bestimmten Ethnie aussieht und Gestalt gewinnt. Das alles wird naturgemäß bruchstückhaft bleiben. David Teeter schreibt über „tastende Gläubige“ unter Muslimen. Solch ein Gläubiger ist im Prozess einer tiefen und umfassenden Veränderung, auch wenn er sich dessen nicht immer vollständig bewusst ist. Ähnlich ist es bei Menschen in neuen Fresh X. Manche Lehrmeinung und ethische Entscheidung von ihnen wird noch hinter den Erwartungen des Gründerteams zurückbleiben. Aber das Team sollte darüber jubeln, dass eine Pilgerschaft in Richtung Jesus begonnen hat.

Schlussbemerkungen Deutlich wurde, dass Re-Kontextualisierung kein oberflächlicher Prozess ist, sondern ins Mark geht. Gründerteams müssen sich „ins Offene“ hinauswagen. Ihr Sicherheitsdenken wird Ihnen nahelegen, Bisheriges zu übernehmen und zu kopieren. Aber es geht nicht um ein Klonen vorhandener Erfahrungen, sondern um Neugeburt von Gemeinde, um wirkliche Innovation. Oder um es mit George Lings zu sagen: Es geht um eine „nicht-identische Reproduktion“. Dann wächst eine „bunte Blumenwiese“ auch in der zweiten Schöpfung Gottes heran: viele neue Gestalten von Gemeinde, die wirklich relevant sind für ihre Umwelt.

Was verbindet uns?

Über altkirchliche Bekenntnisse und das Vaterunser, über die gemeinsame Heilige Schrift hinaus gibt es weder bei den Praktiken noch bei den theologischen Credos sehr viel gemeinsame Schnittmenge, wenn wir die letzten 2000 Jahre und die Christenheit weltweit betrachten. In der postmodernen Welt bilden sich christliche Identitäten oft mehr über einen entsprechenden Lebensstil heraus, weniger durch Inhalte und Praktiken.

Trotzdem gibt es auch eine zentripetale Kraft: gemeinsame Interessen, gemeinsame Anliegen. Im Kern geht es um den Jesus, wie ihn uns die Schrift bezeugt. Gleichzeitig gehört es genuin zum Christsein, Unterschiede auszuhalten, verschiedene Perspektiven ins Gespräch zu bringen. „Dass es vier Evangelien gibt, die nebeneinander im Kanon stehen, und dabei keines den anderen untergeordnet ist, bedeutet wahrzunehmen, dass die Wahrheit über Jesus, die die vier Evangelien bezeugen, unwiederbringlich plural ist – ohne zusammenhangslos oder komplett elastisch zu sein“. (David Ford, 2007: Christian Wisdom, S. 204).

Es könnte ja sein, dass solche spannungsreichen Differenzen die Wahrheit besser beschützen als eine „alle denken das Gleiche“ Position. Das führt dann zu einer dialogischen Ekklesiologie. Ein Beispiel dafür ist der katholische Theologe Gerard Manion (2007, Ecclesiology and Postmodernity). Grundlage dieser Ekklesiologie ist es, alle Stimmen in der Christenheit wahrnehmen zu wollen in einem Geist der Demut, des Zuhörens und der Lernbereitschaft. Das alles in der Hoffnung auf Konsens, aber auch darauf vorbereitet, Unterschiede auszuhalten. Gerade die Katholizität der Kirche, wird sie ernst genommen, führt zu einer solchen inneren Haltung und zur „Gnade eines gesunden Selbstzweifels“, die dann parallel zur eigenen Überzeugung existert. Dann ist es ein Zeichen von Reife unterschiedliche Spannungen auszuhalten und daraus zu lernen.

c) Schlussfolgerungen

Der Inhalt christlichen Glaubens kann also nicht einfach nur weitergegeben werden – jede neue Gemeinde muss sie ihn in diesem Gesprächsprozess neu entdecken. Christliche Tugenden, die diesen Prozess fördern, sind für Hörbereitschaft, Respekt für den anderen, Gleichberechtigung, Ehrlichkeit und theologische Demut. „Die Kirche ist wie ein 2000 Jahre altes Parlaments. Debatte ist fundamental für das kirchliche Leben.“ (S. 275) Durch die Jahrhunderte, vor allem in den altkirchlichen Bekenntnissen, hat die Kirche Grenzzäune für diese Debatten errichtet. Aber innerhalb dieser Grenzen ist Debatte elementar um christlich zu wachsen. Deutlich wird auch hier, dass ein Newton-Denkmuster im Blick auf Organisation nicht weiterhilft. Komplexitäts-Denker, die gerade das „nicht einverstanden sein“ willkommen heißen, liegen eher auf der Ebene auf der hier aufgezeichneten Linie. Alles Neue in der menschlichen Geschichte hat damit gestartet, dass jemand Bisheriges infrage stellte. Werden kirchliche Debatten zu Lernprozessen in einer Haltung solcher Großzügigkeit, kann Kirche zur „Stadt auf dem Berg“ werden und gesellschaftliches Vorbild dafür sein, wie im Horizont der Gnade konfliktreiche Gespräche und Prozesse gelingen können.

Die zu würdigenden Spitzen-Leistungen von Fresh X

Mir gefällt die pragmatische Leistung von Fresh X ungemein, nämlich die Integration postmoderner Perspektiven in die kulturelle Formensprache von Kirche. Damit zugleich ändern sich Prozesslogiken wie die von der staatskirchlichen Verwaltungslogik zur Unternehmer-Logik auf einem turbulenten spirituellen Markt. So versucht die Fresh X Bewegung an die Postmoderne in Ästhetik und Logik und Lebensgefühl anzuknüpfen und es gelingt ihr erstaunlich kreativ und im Anspruch auch radikal kontextuell. So geht sie weit über die nur „restaurativen“ Bemühungen z.B. der restauratio-Gruppen um Bartholomä hinaus.

Wie frisch aber ist die Theologie von Fresh X?

Zusammengefasst lässt sich sagen, das die neusten theologischen Bemühungen in Auseinandersetzung mit der Säkularen Welt hier gut in eine Synthese kommen. Eine Missiologie aus der Ökumenischen Weltkirche („Vortrupp des Reiches Gottes sein“ durch Taten der „Gerechtigkeit, Bewahrung der Schöpfung und des Friedens“) kombiniert sich mit dem evangelistischen Anliegen „in die Nachfolge Jesu zu führen“ der erwecklichen Bewegungen der Kirchen. Fresh X steht damit zwischen den Stühlen „Altpietistische Evangelisation“ und „Ökumenische Mission“. Zwischen diesen beiden Polen in genauem Hören auf die „Zielgruppe“, enkulturieren des Evangliums und gemeinsamen neuen Kontextualisieren dieser Botschaft in Wort und Tat findet ein ständiger Prozess der mutigen Innovation durch die Fresh X-Gemeinden statt.

Eine einzige Vorannahme unterscheidet die Fresh X Theologie wie sie Michael Moynagh in seinem Buch „Fresh Expressions of Church“ (2018) zusammenführt von unserem nuPerspective-Ansatz: Das ist die Konstruktion der „Reich-Gottes-Vorstellung“ und damit dann auch die „Botschaft des Evangeliums“.

Fresh X bleibt hermeneutisch innerhalb der christentümlichen Logik (z.B. „altkirchliche Bekenntnisse und das Vaterunser, die gemeinsame Heilige Schrift“; „Im Kern geht es um den Jesus, wie ihn uns die Schrift bezeugt.“ ) Aber die Auslegung dieses Jesusbildes geschieht in der Spur der modernen historisch-kritischen antiapokylptischen Mainstream-Auslegungsvarianten seit dem 19. Jh. und die heiligen Schriften werden leider durch die Brille der Reformatoren gelesen und begrenzt.

„Die Kirche ist wie ein 2000 Jahre altes Parlament. Debatte ist fundamental für das kirchliche Leben.“ (S. 275) Durch die Jahrhunderte, vor allem in den altkirchlichen Bekenntnissen, hat die Kirche Grenzzäune für diese Debatten errichtet.

Moynagh, Fresh X S. 275

Dieses Zitat oben verrät den neuralgischen Punkt: Die Grenzzäune der Enkulturation oder Kontextualisierung des „Evangeliums“ werden eben nicht durch die „Heiligen Schriften des 1. Jahrhunderts“ definiert, sondern durch die christentümliche „Glaubensregel“ (= Bekenntnisschriften des 4.-5 Jh.) normiert sich die Fresh X- Lesart der Heiligen Schriften. Man könnte es auch so ausdrücken: Es findet eine Art Selbstzensur statt im Sinne der Logik der „christentümlichen Bekenntnisse“, die in der Tiefe verhindert, dass die Heilige Schrift zur „norma normans“ wird, also auch zur Kritik der kontextuellen Theologien des 4. oder 16. oder 21. Jh. christlichen Lebens führt. Trotz Bekenntnis zur Bibeltreue bremst diese christentümliche Lesart die politisch-revolutionären Inhalte der Bibel aus. Fresh X sollte die kontextuelle Hermeneutik bekommen, die sie verdient hat und auch braucht für ihre Innovationen.

Gibt es ein Kernevangelium, das nicht kontextualisiert werden kann?

Moynagh wehrt zwar die Kern-Schalen-Metapher ab:

…die „suggeriert, dass Lehraussagen von zentraler Bedeutung für das christliche Leben sind. Diese Aussagen besitzen einen Kern, der für alle Zeiten gültig ist, auch wenn sich das kulturelle Gefäß verändern kann. Aber Lehraussagen stehen nicht im Zentrum der Nachfolge, sondern der Weg des Einzelnen mit Jesus. Das nicht reduzierbare Minimum des christlichen Glaubens ist keine Ansammlung von Wissen, sondern die Person Christi. Wir sollten nicht von einem propositionlaen Kern mit kulturellen Schalen reden, sondern von einem göttlichen und personalen Zentrum, das Beziehungen behinhaltet.“

Moynagh, Fresh X S. 173

Diese Abwehrgeste gegen den Missbrauch von überzeitlichen Wahrheitssätzen (Fundamentalismus) ist mir sehr verständlich, sie handelt sich aber einen Personalismus ein oder die Reduktion auf „gute Beziehung zu Gott“ (subjektiv-emptional?) als Liebe oder „Selbsthingabe„? Ethischen Diskussionen wären damit nur „situativ“ und nicht mehr „material“ zu entscheiden. Besser wäre eine Thora konforme Beziehung auf individueller und gesellschaftlicher Ebene als eher eine jüdischere und bibeltreuere Kategorie. Jesus war jüdischer Thora Ausleger.

Moynagh schlägt schließlich doch eine „Kern“-Formulierung vor,

„Und werden …nicht die Tatsachen des Leben Jesu, die uns durch die Schrift bekannt sind, zum Kern – das Faktum Jesus? Und führt dies wiederum nicht zu der Anschauung, dass Jesus das Zentrum unseres Glaubens bildet, wobei jede Person und Gemeinde eine besondere Beziehung zu ihm hat?“
Er schränkt aber ein: …“der Jesus den wir verkündigen, ist nicht an unser Verständnis und unsere Bilder gebunden… Christus kann durch eine Ausdrucksform von Kirche vermittelt werden, die sich sehr von dem unterscheidet, was wir erwartet haben.“

Moynagh, Fresh X S. 174f

Starke missiologische Begründungen findet Moynagh im trinitätstheologisch begründeten Missionsbegriff als „Gottes Selbsthingabe„. Den zentralen biblischen Fokus Jesu auf die Ansage der kommenden politischen Gottesherrschaft JHWHs (Mk. 1, 14-15) gibt er aber dafür zugunsten dieses eher abstrakten „Liebesbegriffs“ (=Selbsthingabe) auf. Und „Reich Gottes“ wird christentümlich üblich als ferne Utopie ans Ende der Zeiten verrückt (ein schwacher Abglanz bleibt: „Gemeinde sollte davon heute schon etwas bruchstückhaft widerspiegeln.“). Jesus fokussiert dagegen dies: „Die Zeit ist erfüllt und das Reich Gottes ist herbeigekommen. Tut Buße und glaubt an das Evangelium“ (für die Armen in Israel)! (Mk. 1, 14f). Jesus sagt eben nicht individualistisch: „Mit mir kommt die Zeit, wo wahre Gläubige endlich die radikale Dienstgesinnung/Liebe erlernen!“

Ja, Jesus und sein Jüngergewinnungsprozess stehen zwar modellhaft im Zentrum der Begründung für die postmoderne soziale Gründungsbewegungen von Kirche heute, doch die Reichs-Gottesvorstellung hallt nur schwach nach, Fresh X definiert sie sich modern um als – ich muss leider sagen „nur“(!)- spirituelle „Einflusssphäre“ Gottes in dieser Welt (sicherlich: innerhalb und außerhalb der Kirche). Ist das nicht ein Allgemeinplatz göttlicher Präsenz in der Gotteslehre? Was soll ein Gott ohne Einfluss in seiner Welt?

Ich meine, so scheiden sich theologisch die Geister:

Geht es „Jesus“ denn „nur“ um

  • Symbole und Vorzeichen allgemeiner göttlicher Wirksamkeit (Zeichen und Wunder)
  • Kritik von Herrschaft durch eine „Dienstgesinnung“ im Jüngerkreis
  • das Kreuz als Realsymbol der „Kraft der Selbsthingabe“ des (trinitarischen) Gottes
  • den Beweis durch die Auferweckung, dass er kein Falschprophet war, sondern eben Gottes (trinitarischer) Sohn

All das bleibt wider aller guten Intentionen im individualistischen oder Kleingruppen-Modus hängen.

Oder sollten wir hermeneutisch nicht näher an der jüdisch-apokalytischen politischen Vorstellung für das Volk Israel und das es umgebenen heidnische Imperium so interpretieren:

  • Zeichen und Wunder Jesu im Kleinen (indivduellen) verweisen auf die machtvolle bald kommende Revolution Gottes der Verhältnisse im Großen (im politischen Raum).
  • die imperiale Herrschaft der röm. Gewaltherrscher (Tyrannen und ihrer Götter) wird durch JHWE in nicht langer Zeit gestürzt werden
  • die jüdischen Kollaborateure (z.B. Priester und König Herodes) werden den Zorn Gottes herabbeschwören und die Zerstörung des Tempels erleben
  • die heidnische Kultur soll gerichtet und ein jüdisches erneuertes Imperium mit dem Messias Gottes auf dem Thron aufgerichtet werden
  • Die Auferweckung hat als entscheidende Zielpunkt die Erhöhung des Jesus zum Christus, zum göttlich legitimierten neuen „Kyrios“ oder „Sohn Gottes“ als davidischen König JHWHs (zur Rechten des JHWE-Throns) und so zum spirituellen Kaiser des erneuerten römischen christlichen Imperiums (wie Paulus sein Evangelium framte).

Damit bekommen wir einen apokalyptischen Jesus, das meint einen diesseitigen politischen Umstürzler, der Ankündiger einer „neuen politischen Weltzeit“ („Reich Gottes“ inklusive „ewiges Leben“ = neuer Äon), der sehr bewußt die imperialen Mächte provoziert und so konsequent am Kreuz endet.

Die paulinischen Kirchen werden zu Zellen der Revolution von unten, die mit der Rache der Macht zu rechnen haben und deshalb das Märtyrertum erleiden. Dabei war den Kirchen klar, dass sie das Reich Gottes nicht „vorzeichenhaft“ leben, sondern bis zum Kommen des göttlichen Rettungstages (Tag des Zorns!) warten und durchhalten müssen, ja und sicherlich einen geschützten Überlebensraum im Geist der Solidarität und Liebe (Thora gemäß) Gottes bilden könnten. Dabei sind sie weiter Modelle der „neuen Schöpfung“ wie es Israels Bestimmung immer war.

In jenen Zeiten wurde also das Evangelium als das Ende der heidnischen Götter und ihrer irdischen politischen Mächte (vgl. den Neutestamentler Walter Wink) gepredigt. Das war also ein Evangelium für die Ausgebeuteten 99% im römischen Imperium, aber Reiznachricht für die 1% Reichen und Mächtigen.

Was könnte eine „gute“ Nachricht für unsere Zeit sein?

Vielleicht können diese wenigen ersten Andeutungen zeigen, wie stark die Fresh X Theologie noch im a-apokalyptischen Christentumsrahmen bleibt, auch wenn sie deutlich das Post-christentümliche Zeitalter spürt und dies für die sozio-kulturelle Praxis anerkennt und entschieden als Referenzrahmen nimmt. Theologisch fahren Fresh X-Gemeinden leider mit angezogener Christentums-Handbremse. Aber die ließe sich ja lösen! Fresh X, die hast es verdient: Ändere deine Hermeneutik so und du wirst relevanter und bibeltreuer als je zuvor. 🙂

Dies könnte vielleicht neu in einer Debatte mit Vertreter:innen gesellschaftlicher Akteure wie z.B. Fridays for Future, Aktivisten „der letzte Generation“ oder anderen diskutiert werden, so dass ein sinnvoller gesellschaftlicher Konsens entsteht, der die 1% Mächtigen das Fürchten lehrt und eine Ansage (Evangelium) zum Stürzen des Kapitalozäns beinhaltet. Irgendwie in solche gesellschaftrelevante Richtung müsste es gehen. Vielleicht könnten Fresh X Gruppen hier ihren aktuellen Beitrag bringen, da das „Volk JHWHs“ über 4000 Jahre apokalypse-proofed unterwegs war, wie unsere Heiligen Schriften und Teile der Kirchengeschichte belegen. Solch ein Narrativ mit Krisen-Kompetenz ist heute sehr nötig und wird gebraucht, um die epochalen Herausforderungen der Menschheit zu bewältigen.

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